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DER WEIHNACHTSBAUM MIT DEN DREI SPITZEN

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Weihnachten ist doch nicht Weihnachten, wenn man nicht über eine Weihnachtsgeschichte oder über einen Fim geheult hätte ("Ist das Leben nicht schön?"). Diese Geschichte hat mir heute Weihnachten gerettet. G.S.

Der Weihnachtsbaum mit den drei Spitzen
Von Paraskewa Nikoltschewa

Es war einmal … 

Es gab ein sehr schönes Land unter dem Himmel, das jahrelang durch zwei geteilt wurde. Die Weltpolitiker haben es so entschieden. Wie Soldaten-Polizisten haben sie das Land bestraft, da zu viel Böses aus ihm hervorgekommen war – Krieg, Verwüstung und Elend. Und wieder waren es die Weltpolitiker - sie haben zugestimmt, dass nach Jahrzehnten der Trennung das Land wieder vereint wurde. Es wurden blühende Landschaften den Menschen versprochen, aber es ist, wie so oft im Leben, nicht ganz so gekommen. Viele Menschen verloren ihre Arbeit, viele Kinder gehörten zu den zehn Millionen Armen in diesem reichen Land.

Marina und ihr Bruder Nikolai waren Kinder einer Aussiedlerfamilie. Ihre Ur-Urgroßeltern waren Wolgadeutsche, die im Dienst der russischen Zarin Katharina der Großen – als deutsche Prinzessin Sophie von Anhalt-Zerbst geboren, standen. Die Geschwister sprachen perfekt deutsch und russisch. Ihre Mutter war eine Ärztin, die in Deutschland als Krankenpflegerin arbeiten musste, um nicht arbeitslos zu sein. Der Vater – ein gelernter Maschinenbauingenieur - hat in einer Autoreparaturwerkstatt gearbeitet. Kurz vor Weihnachten wurde er entlassen. Er war immer ein durchaus optimistischer Mensch, sonst hätte er den Schritt der Übersiedlung in einer fremden „Heimat“ nicht gewagt. Aber die überraschende Entlassung kurz vor den Feiertagen hat ihn ganz traurig gemacht, denn er hatte überhaupt kein Geld, um die Weihnachtsgeschenke zu kaufen, geschweige denn einen Tannenbaum zu besorgen. Seinen Liebsten hat er nichts von seiner Not erzählt. Stattdessen lief er tagelang durch Berlin und bot seine Arbeitskraft für verschiedene Aushilfsjobs an. Er half anderen Menschen bei dem Umzug, sang traurige russische Lieder in der S- und U-Bahn, sortierte Briefe bei der Post. Dafür bekam er recht wenig Geld und die Verzweiflung machte sich langsam breit in seiner Brust.

Ein Tag vor Weihnachten, als er beklommen auf dem Weg nach hause war, fragte ihn der Tannenbaumverkäufer an der Ecke, der alle seine Bäume verkauft hatte, ob er die kleine „Kruke“ mitnehmen würde, einfach so, ohne Geld. „Wer will schon einen Tannenbaum mit drei Spitzen?“ Der Vater nahm ganz gerührt und überglücklich das sonst schön gewachsene Bäumchen mit, das wirklich drei Spitzen hatte. Aber da man „dem geschenkten Gaul nicht ins Maul schauen soll“, bedankte er sich tausend Mal und eilte damit nach Hause.

In der Küche fand er seine Frau vor, die ganz durcheinander war. Sie wollte Geld für die Weihnachtseinkäufe abholen, aber das ging nicht. Man habe ihr in der Bank erklärt, dass das Dezembergehalt ihres Mannes nicht eingegangen sei. Nun musste der arme Mann ihr endlich beichten, was Sache war. Er hat sich sehr geschämt, dass er ihr das nicht früher mitgeteilt hatte, aber er war erleichtert. Nun lagen sich beide in den Armen und schluchzten leise.

Die Kinder waren draußen Schlitten fahren und sollten jeden Moment nach hause kommen. Und tatsächlich sprang die Tür auf und in der Wohnung sind Marina und Nikolai herein gestürmt. Sie hatten eine alte Frau untergehakt und strahlten mit ihren von der Kälte geröteten Gesichter: „Wir haben eine Großmutter gefunden! Wir haben endlich eine Oma! Sie darf doch bei uns bleiben, nicht wahr?“ „Beruhigt euch, erst mal ausziehen und die Hände waschen, dann erzählt ihr uns…“ Die Mutter war wieder gefasst und wollte ihren Kummer auf keinem Fall zeigen. 

Die Geschichte dann war eine fast alltägliche Geschichte. Die alte Frau stammte aus Russland und war zu Besuch bei ihrem in diesem Land wohnenden Sohn und seiner deutschen Frau. Das Mütterchen hat mit viel Liebe für Heiligabend und Weihnachten gekocht, gebacken und gebrutzelt, um ihre Kinder mit russischen Spezialitäten zu verwöhnen. Aber in der modernen Küche ihrer Schwiegertochter hat sie sich nicht ganz ausgekannt. Als der Gänsebraten fertig war, anstatt den Backofen auszuschalten, drückte sie auf den Reinigungsknopf. Der ganze Braten wurde mit Chemikalien und Backofenruß bedeckt. Obwohl die Gans in einem Bratfolienbeutel lag und nicht wirklich ungenießbar geworden war, haben ihr die jungen Leute gesagt, sie würden das nicht essen wollen. Noch schlimmer – sie fingen an, sich fürchterlich zu zanken, zu schreien und sich Dinge an den Kopf zu werfen, was die alte Frau in der fremden Sprache überhaupt nicht verstand. Da sie keine Ahnung hatte, dass die Menschen in diesem fernen Land traditionsgemäß vor Weihnachten sich verkrachten, um spätestens am Heiligabend sich zu versöhnen und reichlich zu beschenken, dachte ganz verbittert, sie allein sei Schuld an diesem Familiendesaster. So warf sie rasch den großen bunten russischen Schal über ihre Schulter und war im Begriff die Gans in die Mülltonne zu werfen. Aber sie konnte es nicht übers Herz bringen – so viele gute Zutaten hatte sie liebevoll verwendet und es roch so lecker. Außerdem dachte sie an die tausende hungrigen Kinder in der Welt, die nichts zum Essen hatten. Sie war unendlich traurig und weinte ganz bitterlich, als sie sich auf den Stufen des schönen Hauses ihres Sohnes hingesetzt hatte. Ihre Tränen haben wie mit einem Zauberstab die Schwärze und den Ruß ausgespült und durch die Folie konnte man den appetitlich duftenden Braten sehen. Gerade in diesem Moment, als die alte Frau nicht wusste was sie machen sollte, fanden sie Marina und Nikolai. Sie nahmen an, sie sei gestürzt und wollten ihr beim Aufstehen helfen. Aber dann sahen sie die noch warme Gans in ihrem Schoß und das mit Tränen überströmten Gesicht. 

Die Unbeholfenheit, mit der sie probiert hat, den Kindern zu erklären, dass sie aus dem fernen Russland sei und ihre Sprache nicht spricht, hat sie mächtig amüsiert. Noch mehr amüsiert waren sie, als sie das perplexe Gesicht der Frau sahen, nachdem sie ihr auf Russisch antworteten. Unterdessen stritten ihre Kinder weiter so laut, dass sich die Balken bogen und vermissten gar nicht die arme alte Mutter und die Gans. Nicht mal das stürmische Klingeln der Drei an der Tür haben sie wahrgenommen. Die Babuschka hatte sich ausgesperrt, aber sie konnte unmöglich draußen in der Kälte bleiben und so ging sie mit den beiden Kindern mit, so als ob sie Herr Gott persönlich geschickt hätte.

In der Wohnung von Marina und Nikolai haben vollkommene Ruhe und Harmonie ihr Nest gefunden. Obwohl die Familie zu viele Probleme, dafür aber zu wenig Geld hatte, herrschten Frieden und Liebe. Die Kinder waren nicht mal ein-einzigen Augenblick traurig, dass sie keine Weihnachtsgeschenke bekommen würden. Ihr größtes Geschenk war die Oma, die selbst keine eigenen Enkel hatte. Sie würde sie über ihren Köpfen streicheln, ihnen schöne Märchen von der alten Heimat erzählen und wohlklingende Lieder singen. Vor allem aber werden sie den ganzen Tag gemeinsam verbringen, anstatt allein zu sein. So schliefen alle ein, jeder ein bisschen glücklicher, als zuvor: Die Mutter, die immer wieder sagte, „Alles wird gut“ sah sich bestätigt und jetzt schmunzelnd an die „herangeflogene“ Weihnachtsgans denken musste; der Vater, der endlich seiner Familie über die Arbeitslosigkeit gebeichtet hatte und dadurch erleichtert war; die alte Frau, die diese Nacht in der Fremde ein Dach über den Kopf bekommen hatte und anschließend die Kinder, die eine Oma und ein Weihnachtsbaum, sogar mit drei Spitzen, bekommen haben. Aber am glücklichsten war die schöne stolze Tanne. Sie barg, pssst!, ein Geheimnis: Nur sie allein wusste, dass sie eine einzige Spitze besaß. Die beiden anderen waren nämlich keine geringeren als die Elfen Emmy und Mick. Der Elfenkönig Alberich persönlich hat sie in geheimer Mission zu den guten armen Kindern geschickt, um ihnen das Weihnachten zu versüßen. Denn die Reichen kaufen nur makellose Tannenbäume mit einer Spitze. 

In der Nacht zum Heiligabend haben diese beide Elfen eine Sonderschicht eingelegt. Als sich am Morgen die Familie zum Frühstück im Wohnzimmer versammelt hatte, wollten und konnten alle nicht ihren Augen glauben. Der Baum war prächtig geschmückt und vollbehangen mit kleinen Silberglöckchen und ringsherum stapelten sich die Weihnachtsgeschenke – für jeden etwas, wovon er insgeheim geträumt, aber nicht gewagt hatte, laut auszusprechen. Und sieh da – der Baum hatte auf einem Mal nur eine Spitze! Emmy und Mick haben sich nach getaner Arbeit still und leise aus dem Staub gemacht. Nicht mal die Großmutter, die diese Nacht auf der Couch verbracht hatte, ohne schlafen zu können, hat von der Elfenaktion etwas mitbekommen.

Die beide Elfen sind nun wieder unterwegs, um andere Kinder zu beglücken. Vielleicht sind sie morgen bei dir, oder bei Anna und Felix? Sie sind ein Teil des Sternenstaubes – unsichtbar, dennoch immer da, wenn sie gebraucht werden.

Nach dem Frühstück wollte die alte Frau zu ihrem Sohn zurückkehren. Marina und Nikolai waren sehr traurig, dass sie die gefundene Großmutter verlieren sollten. Aber sie vereinbarten, dass die Oma sie jeden Tag besuchen sollte. Als sie das Haus des Sohnes erreicht haben, stand ein Polizeiauto vor der
Tür. Die jungen Leute haben erst am Morgen festgestellt, dass die Mutter, samt der knusprig gebackenen und gründlich „gereinigten“ Gans verschwunden war und wollten mit Hilfe der Polizei eine Suchaktion starten. Nun war die Freude groß!

Der Sohn und seine Frau haben sich ihrem Verhalten wegen geschämt. Sie waren reich und dachten nun mit einem Finderlohn könnten sie sich bei den Geschwistern bedanken. Da waren sich Marina und Nikolai einig: Kein Geld dieser Erde kann ihr Glück, Freude und Zufriedenheit dieses Weihnachten aufwiegen. Ihr Wunsch war ganz einfach und bescheiden – Enkel dieser lieben und gütigen Frau seien zu dürfen, so lange sie keine eigene hatte. Ihr haben die Kinder die Wunder der letzten Nacht verschrieben, denn von den Elfen Emmy und Mick wissen nur wir allein.

Das Märchen ist hier fast zu Ende. Zu erwähnen wäre noch, dass die beiden Familien, dank der Kinder und der Großmutter, aber nicht zuletzt auch der verpatzten Gans, Freunde geworden sind. Und Freunde sind dazu da, um sich zu helfen. So konnte der arbeitslose Vater ganz schnell in der Firma von Babuschka´s Sohn arbeiten und für seine Familie wieder gut sorgen.
Copyright: Paraskewa Nikoltschewa
Für alle, die sich nicht mehr genau daran erinnern können, wie Elfen doch gleich aussahen.
Nach einem Gemäled von H. Carati 1901.
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